Das Rathaus
Das Rathaus wurde in den Jahren 1927 bis 1929 nach den Plänen des Wiener Architekten Anton Valentin erbaut. Dort, wo es heute steht, erstreckte sich früher die Gemeindeweide, eine Au- und Wiesenlandschaft. 1890 wurde auf dem Platz vor den Aubäumen ein öffentliches Waaghäuschen errichtet, um Tiere und Wagenfuhren abwiegen zu können.
1921 stellte die Kriegswitwe Josefine Wentruba an die Gemeindeverwaltung das Ansuchen, einen Kiosk für Tabakwaren errichten zu dürfen. Dieser befand sich in unmittelbarer Nähe zum Waaghäuschen. Zu dieser Zeit war die Gemeindestube im Haus des Vorschuss- und Sparvereines, der heutigen Volksbank, untergebracht. Das vorhandene Platzangebot reichte schon länger nicht mehr aus. Es begann die Diskussion um die Errichtung eines Rathauses.
Damals war Anton Fahrner als Vertreter der Wirtschaftspartei, die sich aus der Partei der Großdeutschen und den Anhängern der Christlich-Sozialen Partei zusammensetzte, Bürgermeister. Die Sozialdemokraten stellten sich vehement gegen das Projekt Rathausbau, weil sie das Geld für den ebenso dringend benötigen Wohnbau verwenden wollten. Fahrner setzte – mit den Gegenstimmen der Sozialdemokraten – den Rathausbau durch und ließ einen Architektenwettbewerb ausschreiben, den die Architekten Baumgartner-Hofbauer gewinnen konnten. Das Projekt fand aber aufgrund der hohen Kosten keine Zustimmung. Somit erhielt der zweitplazierte Architekt Anton Valentin den Auftrag zum Rathausbau.
Architekt Anton Valentin
Valentin gestaltete seinen Entwurf für das Rathaus in expressiver Weise. Besonders auffällig sind dabei die aus der glatten Fassade spitz herausragenden Erker, die Valentin beim Rathaus an die Ecken des Baukörpers rückte. Als Anlehnung an große historische Rathausbauten setzte der Architekt einen turmartigen Baukörper ins Zentrum des Gebäudes. Der Zugang zum Amtsgebäude über einen breiten Stufenaufgang und durch zwei halbe Rundbögen greift ebenfalls die Typologie des Amtshauses auf und lässt die Wichtigkeit des Ortes bereits erahnen.
Die unterschiedlichen Fensterformen am Rathaus sind besonders interessant. Ursprünglich waren sie so nicht vorgesehen, wie an den halbrunden Fenstern an der Grestner Straße zu sehen ist. Diese wirken wie stilisierte Fabriksfenster – dahinter lag der Schalterraum des Post- und Telegrafenamtes. Die rückwärtige Fassade des Rathauses ist von einem breiten, beinahe durchgängigen Fensterband geprägt. Dieses sorgt für die optimale Lichtzufuhr im Stiegenhaus. Das Stilelement der langen Fensterbänder hat Valentin in den 1930er Jahren vor allem bei der Planung seiner Wiener Einfamilienhäuser eingesetzt. Für die damalige Zeit war die Verglasung einer größeren Fläche eine bahnbrechende Errungenschaft und eine statische Herausforderung.
Die Turmuhr
Von Beginn an wünschte Bürgermeister Fahrner einen repräsentativen Rathausbau. Diesem Anliegen trug Architekt Anton Valentin unter anderem durch das Anbringen der Turmuhr Rechnung. Die Turmuhr ist in eine Fassadenmalerei in Secco-Technik von Rudolf Holzinger eingefügt, die eine Tag- und eine Nachtseite erkennen lässt. Die Turmkante trennt die beiden größten Figuren des Freskos, den Erzengel Michael als Ritter und den Drachen. Michael, auf der „Tagseite“ dargestellt, ist Seelenführer und Beschützer der Christen sowie Schutzherr zahlreicher Berufe. Er verbannte den Drachen, Symbol der Finsternis, mit dem Flammenschwert aus dem Himmel.
Festsaal (Großer Sitzungssaal)
Die Ausgestaltung des Sitzungssaales entspricht nicht nur durch die besonderen, heute noch vorhandenen Möbel aus der Werkstätte Mittringer in Wien, sondern auch durch die Fresken an allen Wänden den Anforderungen eines repräsentativen Baues. Es zeigt Wandmalereien von Kurt Weiß (Südwand) und Rudolf Holzinger (Nordseite). Die Arbeiten zeigen Szenen aus dem Berufsleben von Gewerbe und Landwirtschaft. Lokalhistorisch interessant ist die Darstellung der Abstimmung des Gemeinderates über den Bau des Rathauses.
Anbauten und Erweiterungen
Der Bauplatz für das Rathaus war aufgrund seiner spitz zulaufenden Form gewiss nicht einfach zu handhaben. Doch Valentin hat ihn auf vorzügliche Weise platzmäßig optimal ausgenutzt und durch sein Verschachtelungssystem der Marktgemeinde Wieselburg ein prägnantes Bauwerk beschert, das von allen Seiten aus betrachtet einen wahrlich imposanten Eindruck hinterlässt. In der Grestner Straße war nach den Plänen Valentins der Anbau eines Wohnungstraktes geplant, der aber nicht ausgeführt wurde. Dieser Wohnungsanbau sollte dreistöckig ausgeführt werden und hätte den Rathausflügel daher etwas überragt. Wie schon beim Rathaus selbst, sollten auch hier klare Fensterachsen das Äußere bestimmen. Leider kam dieser perfekt auf das Rathaus abgestimmte Anbau in dieser Form nie zur Ausführung.
Mit der Ausführung des Baues wurde die Wieselburger Firma Schinner & Wiktora beauftragt. Bereits am 5. Juli 1929 machte der Bürgermeister die Mitteilung, dass dies die letzte Sitzung innerhalb der alten Räumlichkeiten im Haus des Vorschuss- und Sparvereines sei. Er verwies darauf, dass die Gemeinde ein halbes Jahrhundert in diesen Räumen untergebracht war.
Am 12. Oktober 1929 fand die erste Sitzung im neuen Rathaus statt. Anlässlich dieser Sitzung ergriff der Bürgermeister das Wort zu einer längeren Rede, in welcher er die Notwendigkeit, den Werdegang, den Zweck und die Vorteile des neu errichteten Rathauses schilderte, er dankte allen Mitarbeitern und schloss mit folgendem Antrag: „Der Betrag, der für eine Rathauseröffnungsfeier notwendig gewesen wäre, ist den Armen der Gemeinde Wieselburg zu geben.“
Etwa zur gleichen Zeit, zu der der Rathausbau erfolgen sollte, stellte der Friseur Geissler an die Gemeinde den Antrag zum Ankauf eines Grundstückes. Er wollte sein Friseurgeschäft, das er damals mit dem Konditor Reschinsky in dessen Haus am Hauptplatz teilte, erweitern, und in ein eigenes Haus verlegen, welches ebenfalls von Anton Valentin geplant werden sollte. Die Gelegenheit erwies sich später als optimal, weil durch den Anbau des Friseurgeschäftes an das Rathaus dessen Optik verlängert und die Vision vom „modernen Gemeindezentrum“ um ein Friseurgeschäft bereichert wurde. Im Rathaus war auch die Polizeistube untergebracht, die Post, ein kleines Lebensmittelgeschäft, eine Trafik und zwei Wohnungen
Nachdem in den 1980er Jahren feststand, dass durch die Post ein Zubau an das Rathaus erfolgen sollte, war klar, dass ein neuer Plan erstellt werden müsste – nicht alleine wegen der geänderten Ansprüche an die Räumlichkeiten, sondern auch aufgrund des geänderten Architekturstils. DI Johannes Scheruga fand eine gute Lösung für den Rathauszubau, den er einerseits zeitgemäß gestaltete und bei dem er andrerseits auf den historischen Bau und seine Stilelemente Rücksicht nahm. So griff er beispielsweise die spitzen Eckerker des Rathauses auf und setzte diese Form bei den Fenstern der beiden Obergeschoße ein. Auch die Gruppierungen der Fenster und deren optischer Zusammenhalt durch die verbundenen Fensterbänke zeigen eine starke Affinität zum Rathausbau. Die Form der nach oben hin halbrund abschließenden Fenster, hinter denen sich heute das Bürgerbüro befindet, wandelte er in hohe Fensteröffnungen um, die dem Untergeschoß einen arkadenähnlichen Charakter verleihen. All diese Elemente und auch die an das Rathaus angepasste Traufhöhe verleihen dem Gebäudekomplex ein harmonisches Aussehen.